Chirurginnen operieren im Durchschnitt weniger komplexe Fälle als ihre männlichen Kollegen. Zu diesem Schluss kommt eine Studie, die im September 2020 in der Fachzeitschrift “Annals of Surgery” veröffentlicht wurde. Die Autoren verglichen mehr als 550.000 Falldaten von Operationen am Massachusetts General Hospital.
Falldaten aus über 20 Jahren untersucht
Frühere Studien haben bereits darauf hingewiesen, dass Chirurginnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen häufig unterbeschäftigt sind und sowohl weniger als auch weniger komplexe Operationen durchführen. Eine aktuelle Untersuchung von Wissenschaftlern der Harvard Medical School und des Departments of Surgery am Massachusetts General Hospital bestätigt diese Hinweise.
Die Autoren haben insgesamt 551.047 Falldaten von Operationen verglichen, die zwischen 1997 und 2018 am Massachusetts General Hospital durchgeführt wurden. Berücksichtigt wurden 131 Chirurgen, 20,6 Prozent davon weiblich. Für jeden Fall wurde der sogenannte Work Relative Value Unit (wRVU) erhoben. Dabei handelt es sich um eine allgemein anerkannte Metrik, mit der die technische Komplexität der Fälle gemessen wird und die viele Kliniken auch zur Gehaltsermittlung heranziehen. Zum Vergleich ermittelten die Autoren den gesamten wRVU für jeden Chirurgen und jeden Monat.
Deutliche Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Chirurgen
Um die Ergebnisse nicht zu verfälschen, haben die Autoren die Auswertung um gewisse Faktoren bereinigt, etwa um die ethnische Zugehörigkeit der Chirurginnen und Chirurgen, die Wahl der Subspezialisierung und die Verfügbarkeit aufgrund familiärer Verpflichtungen.
Unter Berücksichtigung dieser Bereinigung lag der mittlere wRVU bei den männlichen Chirurgen bei 10,8, bei den weiblichen Kollegen dagegen nur bei 8,3. Umgerechnet auf jeden einzelnen Fall erhalten männliche Chirurgen 1,65 wRVU mehr als ihre Kolleginnen. Hinsichtlich der Komplexität der Fälle bedeutet dies, dass Frauen um 23 Prozent weniger komplexe Operationen durchführen als ihre männlichen Kollegen.
Weitergehende Analysen der Daten ergaben, dass sich diese Unterschiede mit zunehmendem Alter der Chirurgen und Chirurginnen noch vergrößern. Zudem zeigte sich innerhalb des 20 Jahre umfassenden Studienzeitraums keine Verbesserung.
Welche Ursachen führen zur Unterbeschäftigung von Chirurginnen?
Offen bleiben die Fragen, wie diese Unterschiede zustande kommen – und wie der Unterbeschäftigung von Chirurginnen entgegengewirkt werden kann. Zwar liegt die Vermutung nahe, dass Frauen aufgrund familiärer Verpflichtungen häufiger für Operationen nicht zur Verfügung stehen. Genau dieser Faktor wurde bei der Analyse aber bereits berücksichtigt und herausgerechnet. Es müssen also andere Gründe für die in der Studie festgestellten Unterschiede verantwortlich sein.
Häufig wird etwa darüber diskutiert, ob Frauen in der Chirurgie als weniger selbstbewusst und dadurch auch als weniger kompetent wahrgenommen werden. Eventuell haben sowohl männliche Kollegen und Vorgesetzte als auch Patienten weniger Vertrauen in die Fähigkeiten der Chirurginnen, was dann dazu führt, dass diese weniger komplexe Operationen zugewiesen bekommen. Die Autoren der Studie halten in ihrem Fazit fest, dass weitere Untersuchungen notwendig sind, um die genauen Gründe zu ermitteln. Das sei auch notwendig, um mögliche Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Liegt die Unterbeschäftigung von Chirurginnen in mangelndem Vertrauen begründet, helfen auch Maßnahmen wie Führungstrainings und die vermehrte Teilnahme an Konferenzen wenig, um die Karriere von Frauen in der Chirurgie voranzutreiben.