Eine aktuelle Umfrage zeigt: Assistenz- und Oberärzte/-innen fühlen sich immer häufiger müde, ausgelaugt und erschöpft. Ein Grund ist die zunehmende Arbeitsbelastung, die in vielen Fällen über das vom Arbeitsgesetz gestattete Mass hinausgeht. Zu diesem Ergebnis kommt die Mitgliederbefragung des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen (vsao), durchgeführt vom Institut DemoSCOPE.
Bei 68 Prozent der Ärzte/-innen weichen die Arbeitszeiten vom Arbeitsgesetz ab
Nach den Jahren 2013, 2016 und 2019 hat der vsao zum vierten Mal seine Mitglieder/innen nach der Arbeitssituation in den Schweizer Spitälern befragen lassen. Die Ergebnisse der Umfrage beziehen sich auf das Jahr 2022. Teilgenommen haben insgesamt über 3‘200 Personen, davon 56 Prozent Assistenzärzte/-innen und 44 Prozent Oberärzte/-innen. 33 Prozent der Befragten arbeiten in einem Unispital, 35 Prozent sind in einem Kantonsspital tätig, 18 Prozent an einem Regionalspital. 14 Prozent arbeiten anderswo.
Im Vergleich zu den letzten drei Befragungen hat sich die Arbeitssituation für Assistenz- und Oberärzte/-innen nicht wesentlich verbessert. So berichten 68 Prozent der Befragten, dass ihre Arbeitszeiten vom Arbeitsgesetz abweichen. Die zulässige Höchstarbeitszeit liegt bei 50 Wochenstunden. Jedes zweite vsao-Mitglied arbeitet im Schnitt jedoch mehr als 50 Stunden, für 43 Prozent beträgt die Arbeitszeit sogar mehr als 52 Stunden in der Woche. Die effektive Arbeitszeit hat sich in den vergangenen drei Jahren kaum verändert und liegt 2022 bei 50,7 Wochenstunden (2019: 50.6 Wochenstunden). Auf ein 100-Prozent-Pensum bereinigt, ist die Arbeitszeit in den vergangenen drei Jahren allerdings von 55,7 auf 56,3 Stunden pro Woche gestiegen.
Anteil der Teilzeitstellen nimmt weiter zu
Die Umfrage weist auch auf einige positive Entwicklungen hin. So ist die Zahl der kumulierten Überstunden in den vergangenen drei Jahren von 137 auf 134 gesunken. Die zulässige Höchstarbeitszeit von sieben Tagen am Stück wird ebenfalls weniger oft überschritten. Der vsao führt beide Entwicklungen unter anderem auf den weiterhin steigenden Anteil an Teilzeitstellen zurück.
Der Anteil an vsao-Mitgliedern/-innen mit einem Arbeitspensum unter 95 Prozent liegt im Jahr 2022 bei 33 Prozent (2019: 27 Prozent). Unter den Oberärzten/-innen sind 51 Prozent in Teilzeit tätig, acht Prozent mehr als noch 2019, bei einem Beschäftigungsgrad von 84,8 Prozent (2019: 86,7 Prozent). Bei den Assistenzärzten/-innen ist die effektive Arbeitsbelastung in den vergangenen drei Jahren dagegen gestiegen, von 52,8 Stunden im Jahr 2019 auf 53,3 Stunden im Jahr 2022.
Zunehmende Belastung hat Konsequenzen
Die zunehmende Arbeitsbelastung hat Konsequenzen – für Ärzte/-innen und Patienten/-innen. 67 Prozent der befragten Ärzte/-innen berichten, dass sie sich häufig oder meistens müde fühlen. Bei der letzten Umfrage 2019 waren es noch 56 Prozent. 45 Prozent sind häufig oder meistens ausgelaugt (2019: 33 Prozent), 42 Prozent klagen über körperliche, 39 Prozent über emotionale Erschöpfung. Mehr als die Hälfte der Befragten (52 Prozent) hat zumindest hin und wieder den Gedanken „Ich kann nicht mehr“ (2919: 33 Prozent). Unter den Ärzten/-innen, die zwischen 51 bis 60 Stunden arbeiten, tragen sich sogar 59 Prozent mit diesem Gedanken, unter denen mit mehr als 60 Stunden Wochenarbeitszeit sind es 77 Prozent.
Alle genannten Werte haben seit Messbeginn 2016 kontinuierlich zugenommen, was der vsao als Indiz für eine insgesamt schlechtere Gesundheitsverfassung der Ärzteschaft deutet.
Die hohe Belastung des medizinischen Personals geht auch mit Nachteilen für Patienten/-innen einher. 59 Prozent der Befragten haben in den vergangenen zwei Jahren mindestens einmal erlebt, wie Patienten/-innen aufgrund der Übermüdung von Ärzten/-innen gefährdet wurden. 2019 lag dieser Anteil noch bei 51 Prozent. Nur jede vierte befragte Person sagt, noch nie die Gefährdung eines/-r Patienten/-in miterlebt zu haben (2019: 34 Prozent).
Weiterbildungen können oft nicht im vorgeschriebenen Umfang absolviert werden
Zum ersten Mal wurden die vsao-Mitglieder/innen auch nach ihren Weiter- und Fortbildungsbedingungen befragt. Gemäss Weiterbildungsverordnung des SIWF müssen Assistenzärzte/-innen mindestens vier Stunden pro Woche strukturierte Weiterbildung erhalten, die zudem auf die Arbeitszeit angerechnet werden müssen. Der Umfrage zufolge kommt jedoch nur jede/r fünfte Befragte (21 Prozent) auf diese Stundenzahl.
Für Oberärzte/-innen sieht die Fortbildungsverordnung des SIWF eine jährliche Fortbildungsdauer von zehn Arbeitstagen als Richtwert vor. Allerdings haben im Jahr 2022 nur 41 Prozent der befragten Oberärzte/-innen zwischen sieben und mehr als zehn Fortbildungstagen absolviert. 58 Prozent nahmen an ein bis sechs Tagen oder gar nicht an Fortbildungen teil. Anders als vorgegeben, entfielen einige der Weiter- und Fortbildungsstunden auf die Freizeit der Assistenz- und Oberärzte/-innen: Insgesamt konnten 68 Prozent der Stunden vollumfänglich, 24 Prozent teilweise und sieben Prozent nicht auf die Arbeitszeit angerechnet werden.
Trotz aller Schwierigkeiten empfinden die meisten jungen Ärzte/-innen ihren Beruf als erfüllend. Entsprechend sind sie motiviert, an der Lösungsfindung mitzuwirken. Zu diesem Zweck organisiert der vsao am 9. Juni 2023 einen Runden Tisch mit verschiedenen Interessenvertretern, bei dem Wege gefunden werden sollen, die Arbeitsbedingungen für das ärztliche Spitalpersonal zu verbessern.