Um seltene Krankheiten zu behandeln, werden häufig innovative Arzneimittel eingesetzt. Die Therapie ist teuer – und könnte durch die 2024 in Kraft tretenden neuen Regeln für die Einzelfallvergütung von Arzneimitteln gefährdet werden. Die Änderungen sollen einheitliche Standards einführen und die Einzelfallvergütung transparenter gestalten. Ärzte/-innen kritisieren jedoch, dass sich die Revision zu sehr auf Kosteneindämmung fokussiert.
Einzelfallvergütung von Arzneimitteln: Die wichtigsten Änderungen
Die Einzelfallvergütung soll den raschen Zugang zu dringend benötigten Arzneimitteln ermöglichen, die nicht in der Spezialitätenliste aufgeführt sind. Bei dieser Ausnahmeregelung entscheiden die Krankenversicherer, ob sie die Kosten übernehmen. Bislang basiert diese Entscheidung zum einen auf einer Nutzenbewertung durch eine/n Vertrauensarzt/-ärztin, zum anderen handeln die Krankenversicherer mit den Pharmaunternehmen einen als wirtschaftlich angesehenen Preis aus.
Im Jahr 2019 wurden 80 Prozent der rund 38’000 Gesuche auf Kostengutsprache bewilligt. Allerdings mit grossen Unterschieden zwischen den einzelnen Krankenversicherern. Um ungleichen Beurteilungen vorzubeugen, hat der Bundesrat im September 2023 neue Modalitäten für die Einzelfallbewertung verabschiedet. Die Änderungen sollen mit der Revision der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) und der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) am 1. Januar 2024 in Kraft treten.
Die wichtigsten Neuerungen:
Standardisierte Nutzenbewertung
Der therapeutische Nutzen von Arzneimitteln soll auf Grundlage standardisierter Bewertungsmodelle beurteilt werden. Grundlage bildet das von den Vertrauensärzten/-innen entwickelte OLUTool (OLU = Off Label Use). Demnach wird der Nutzen eines Arzneimittels in Bezug zum therapeutischen Fortschritt beurteilt und in vier Kategorien eingeteilt, vom sehr grossen therapeutischen Nutzen (Kategorie A) bis hin zu einem nur moderaten oder nicht vorhandenen therapeutischen Nutzen (Kategorie D). Die Einzelfallvergütung ist zu gewähren, sobald ein klinisch relevantes Ansprechen erwartet und in einem Therapieversuch nachgewiesen wird.
Fixe Rabatte
Um eine einheitliche und transparente Preisfestsetzung zu etablieren, werden verbindliche und fixe Rabatte ausgehend vom Preis der Spezialitätenliste oder vom Auslandspreis festgelegt. Das soll den Verhandlungsaufwand zwischen Krankenversicherern und Pharmaunternehmen reduzieren. Die Höhe der zu gewährenden Rabatte richtet sich nach dem therapeutischen Nutzen des Arzneimittels.
Begründungspflicht
Lehnen die Krankenversicherer die Kostenübernahme ab, müssen sie dies gegenüber den behandelnden Ärzten/-innen und den Patienten/-innen begründen. Der Begründung muss die Nutzenbewertung des/-r Vertrauensarztes/-ärztin sowie gegebenenfalls die Empfehlung eines/-r klinischen Fachexperten/-in beigelegt werden. Ärzte/-innen und Patienten/-innen können auf Basis dieser Begründung Widerspruch gegen die Entscheidung einlegen.
Mehr Transparenz
Die Krankenversicherer müssen das BAG über die von ihnen gewährten Einzelfallvergütungen informieren und jährlich über alle Gesuche zur Kostengutsprache Bericht erstatten.
Arzneimittelbeschaffung im Ausland
Ist ein benötigtes Arzneimittel in der Schweiz nicht lieferbar, darf es unter bestimmten Umständen im Ausland erworben werden. Die Krankenversicherer müsse die Kosten für diese Ersatzbeschaffung übernehmen.
Was bedeuten die Änderungen für die Behandlung seltener Krankheiten?
Insbesondere seltene Krankheiten machen den schnellen Zugang zu innovativen und meist teuren Arzneimitteln notwendig. Die Revision der Einzelfallvergütung soll zwar die Gleichbehandlung von Patienten/-innen sicherstellen, Mediziner/innen kritisieren jedoch, dass sie ihr Ziel verfehlt.
Als fragwürdig werden unter anderem die vom Bundesrat verbindlich vorgeschriebenen Rabatte angesehen. Für Pharmaunternehmen sind diese Konditionen eher unattraktiv. Zudem sind sie nicht dazu verpflichtet, Patienten/-innen mit Medikamenten zu versorgen. Mediziner/innen sehen daher die Gefahr gegeben, dass sich der Zugang zu lebenswichtigen Arzneimitteln verzögern könnte, wenn Pharmaunternehmen die Rabatte nicht anbieten wollen. Für medizinische Leistungserbringer wie Apotheker/innen geht derweil die Beschaffung von Arzneimitteln aus dem Ausland mit einem hohen Aufwand einher, der durch die Vergütung nicht abgedeckt wird. Ärzte/-innen können jedoch eine benötigte Therapie nicht einfach mit dem Hinweis auf ungedeckte Kosten ablehnen. Damit würden sie sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen.