Um einem Ärztemangel vorzubeugen, fordert die nationalrätliche Gesundheitskommission Ausnahmen von der dreijährigen Tätigkeitspflicht für Ärzte und Ärztinnen. Die sieht vor, dass Mediziner/innen drei Jahre an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte in ihrem Fachbereich tätig sein müssen, bevor sie ihre Leistungen zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OPK) abrechnen dürfen. Die Gesundheitskommission fürchtet, dass diese Regelung die medizinische Grundversorgung in einigen Kantonen gefährdet.
Ausnahmeregelung soll Ärztemangel vorbeugen
Die aktuellen Zulassungsbedingungen für Ärzte/-innen, die mit der OKP abrechnen wollen, sind in Artikel 37 Absatz 1 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) festgehalten und am 1. Januar 2022 in Kraft getreten. Seitdem gilt die dreijährige Tätigkeitspflicht. Davon betroffen sind nicht nur Mediziner/innen, die ihre Ausbildung in der Schweiz absolviert haben, sondern auch aus dem Ausland zugezogene Ärzte/-innen, die nun selbst beim Vorliegen eines anerkannten Weiterbildungstitels nicht direkt zulasten der OKP tätig werden können.
Rückmeldungen aus verschiedenen Kantonen lassen die Gesundheitskommission befürchten, dass die gesetzliche Neuregelung zu einer unzureichenden medizinischen Versorgung führen könnte. Als gefährdet sei vor allem die ambulante medizinische Grundversorgung anzusehen. Vor allem in Randregionen haben Ärzte/-innen bereits heute Probleme, Nachfolger/innen für ihre Praxen zu finden. Der neue Rechtsrahmen mache es ihnen nicht einfacher. Die Gesundheitskommission hat daher im Mai 2022 eine parlamentarische Initiative eingereicht und Ausnahmeregelungen gefordert. Besteht ein Mangel an Ärzten/-innen in der ambulanten Grundversorgung, soll es den Kantonen möglich sein, von der dreijährigen Tätigkeitspflicht abzuweichen.
Betroffene Fachbereiche
Die Ausnahmeregelung soll für folgende Fachbereiche gelten:
- Allgemeinmedizin
- Kindermedizin
- Kinder- und Jugendpsychotherapie
- Kinder und Jugendpsychiatrie
Studie zum Ärztemangel: Ein/e Grundversorger/in für 5‘800 Personen
Was ein Mangel an medizinischer Versorgung für die betroffenen Regionen bedeuten könnte, hat ein Forschungsteam im Jahr 2021 exemplarisch für den Kanton Bern untersucht. Bereits seit Jahren macht sich in der Schweiz ein schleichender Rückgang von Hausärzten/-innen bemerkbar. Patienten/-innen geht damit die wichtige erste Anlaufstelle bei gesundheitlichen Problemen verloren.
Im Kanton Bern waren zum Zeitpunkt der Studie 972 Grundversorger tätig. 95 Prozent von ihnen beteiligten sich an der Befragung und beantworteten Fragen zu ihrem gegenwärtigen und zukünftigen Arbeitspensum sowie zur Versorgungssituation in ihrer Region. Das Ergebnis: Um die medizinische ambulante Grundversorgung auf dem aktuellen Stand zu halten, müssten bis zum Jahr 2025 mindestens 270 neue Hausärzte/-innen und Kinderärzte/-innen ihre Tätigkeit aufnehmen. Allerdings klagen bereits zum Studienzeitpunkt 67 Prozent der Hausärzte/-innen über einen Versorgungsmangel. 60 Prozent der Befragten nehmen keine neuen Patienten/-innen mehr auf. In ganz Bern hatten zum Zeitpunkt der Befragung nur 245 Ärzte/-innen keinen Aufnahmestopp verhängt. Verschärft wird die Situation, da 13 Prozent der befragten Ärzte/-innen kurz vor dem Pensionsalter stehen.
In Bern kommen auf eine/n Grundversorger/in 1‘333 Personen. Dabei gibt es jedoch grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen. In Thun gibt es zum Beispiel eine/n Arzt/Ärztin für 1‘075 Personen, in Frutingen-Niedersimmental beträgt das Verhältnis dagegen 1:1‘700. Ohne ausreichend medizinischen Nachwuchs wird sich dieses Verhältnis den Forschern zufolge deutlich verschlechtern. Im Jahr 2025 kämen demnach in einigen Regionen 5800 Personen auf eine/n Grundversorger/in. Selbst in städtischen Regionen wie Biel könnte sich das Verhältnis auf 1:2‘000 verändern.
Keine genaue Definition für medizinische Unterversorgung
Was genau als unzureichende medizinische Versorgung gilt, haben weder das Berner Forschungsteam noch die Gesundheitskommission definiert. Die Kommission möchte den Kantonen auf diese Weise einen gewissen Ermessensspielraum einräumen und sie selbst entscheiden lassen, wann eine Unterversorgung vorliegt. Beim Krankenversicherer-Verband Santésuisse stösst dies auf Kritik. Dort ist man der Ansicht, dass feste Kriterien und methodische Grundsätze für das Bestimmen einer Unterversorgung vorgegeben werden müssten.
Jetzt ist es am Parlament, über die vorgeschlagenen Ausnahmeregelungen zur Tätigkeitspflicht zu entscheiden. Einige Parlamentarier unterstützen die Forderung der Gesundheitskommission, möchten die Ausnahmeregelungen allerdings auf die Allgemeinmedizin und die Kinder- und Jugendmedizin begrenzen, ohne die Kinder- und Jugendpsychotherapie sowie -psychiatrie mit einzubeziehen.