In der Schweiz sind Ärzte/-innen zunehmend einem hohen Druck ausgesetzt. Vor allem der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärzte/innen, kurz VSAO, schlägt nun wegen der Arbeitsbedingungen in Spitälern Alarm. Die NZZ hat eine Umfrage bei über 4‘500 Assistenzärzten/-innen durchgeführt und anhand der Ergebnisse eine Konfrontation mit hohen Arbeitsbelastungen sowie schlechten Arbeitsbedingungen ermittelt.
In der Konsequenz sinkt die Arbeitsbereitschaft im Gesundheitswesen. Das führt zwangsläufig zu Personalmangel und Qualitätseinbussen in der Patientenversorgung. Auch der VSAO bezieht sich auf Mitgliederumfragen, die keine Veränderungen und vielmehr eine Verschlechterung der Problematiken deutlich erkennen lassen. Es ist dringend ein Gespräch am runden Tisch erforderlich, um potenzielle Lösungen zu diskutieren und eine Verbesserung der Situation herbeizuführen.
Umfrage
Zwischen dem 23. Januar und 24. Februar 2023 lief die Umfrage unter den VSAO-Mitgliedern, deren Ergebnisse nicht veröffentlicht sind. Allerdings sieht der Verband die NZZ-Umfrage bereits als Zeichen, dass sich auch nach der letzten Studie 2020 immer noch nichts an den andauernden Missständen und personellen Zuständen in schweizerischen Spitälern verändert hat. Erste Ergebnisse aus der VSAO-Umfrage deuten bereits auf ähnliche Ergebnisse hin, weshalb der Verband dringendes Handeln fordert.
Laut Umfrage gaben 70 Prozent der befragten Ärzte/-innen an, in der Vergangenheit mindestens einmal darüber nachgedacht zu haben, den Beruf zu wechseln. „Wenn jetzt nichts dagegen unternommen wird, ist die Katastrophe sicher“, sagt der Präsident des Bundesverbandes Angelo Barrile.
Arbeitsbedingungen
Aus den Angaben der Ärzte/-innen gehen die Arbeitsbedingungen als eine schwerwiegende Ursache für die prekäre Situation in schweizerischen Spitälern hervor. Diese erstrecken sich über verschiedene Bereiche.
Arbeitszeiten
Die NZZ-Umfrage hat ergeben, dass Assistenzärzte/-innen mehrheitlich mindestens elf Stunden pro Tag im Durchschnitt arbeiten und mindestens 50 Stunden pro Woche in der heutigen Zeit nahezu zum Standard zählen.
Einmal wöchentlich Überstunden machen zu müssen, befinden sie mittlerweile als Normalität. Hinzu kommen häufige Wochenend- und Feiertagsdienste der Assistenzärzte/-innen. Zeit zum Erholen ist sehr knapp und wird als unzureichend bezeichnet. In der Folge lässt die Konzentration nach und das Fehlerrisiko steigt immens.
Arbeitsaufgaben
Eine zusätzliche Belastung stellt laut Umfrage der Personalmangel an Kranken- und Pflegefachkräften dar. Dadurch reduziert sich in Schweizer Spitälern die Unterstützung durch diese, sodass die Arztbelegschaft selbst Aufgaben zu übernehmen hat, die normalerweise durch das Pflegepersonal erledigt werden sollten. Das nimmt Zeit in Anspruch, die bei der Patientenversorgung fehlt.
Außerdem kommt es deutlich schneller zu Missverständnissen, was schlimmstenfalls zu lebensbedrohlichen Folgen für Patienten führen kann.
Nicht von der Hand zu weisen ist auch der Rückgang von ärztlichen Kollegen/-innen, die kündigen. Dadurch erhöht sich der Aufgabenbereich nochmals, denn Ersatz steht meist nicht zur Verfügung. Somit müssen sie nicht selten Arbeit für zwei oder sogar drei Kollegen leisten, wozu Assistenzärzte/-innen mitunter noch keine ausreichende Erfahrungen aufweisen.
Zeitdruck
Zeitdruck ist ein wesentlicher Faktor, der laut Umfrage ein hohes Risiko an Fehlentscheidungen mit sich bringt. Trotz Überstunden bleiben vielerorts einige Arbeiten liegen. Durch den erhöhten Stress geraten dringend zu erledigen Aufgaben schneller in Vergessenheit. Um bestmöglich zu funktionieren und Patienten zu behandeln sowie die Assistenzarztausbildung für den Karriereaufschwung nicht zu gefährden, setzen sich Assistenzärzte/-innen diesem Druck dauerhaft aus. Burnout und Depressionen kommen unter den Ärzten-/-innen vermehrt vor.
Patientensituation
Aufgrund des Personalmangels und der starken Überbelastung von Assistenzärzten/-innen sowie auch Oberärzten/-innen sind in zahlreichen Schweizer Spitälern deutlich zu wenige Belegbetten vorhanden. Das bedeutet, stationäre Aufnahmen für geplante Operationen sind zunehmend häufiger zu verschieben, weil keine Betten frei beziehungsweise für Notfälle reserviert sind.
Patienten/-innen werden ebenfalls immer unzufriedener, was sich auch im zunehmenden Aggressionspotenzial gegenüber Ärzten/-innen und Pflegepersonal widerspiegelt. Zudem sorgt der Betten- und Personalmangel für frühzeitige Entlassungen vor der üblichen Genesungsdauer. Dadurch steigt das Risiko postoperativer Komplikationen. Unter der Berücksichtigung, dass die Bevölkerung kontinuierlich wächst und immer älter wird, steuern die Spitäler laut Verbandspräsidenten geradewegs auf einen signifikanten Einbruch in der Patientenversorgung und im schweizerischen Gesundheitssystem zu.
Besserung nicht in Sicht
Seit Jahren belegen die Umfragen und Studien des Bundesverbandes die fehlenden Ärzte/-innen, Pflegekräfte und schlechten Arbeitsbedingungen. Angelo Barrile spricht von einer Abwärts- und Negativspirale, die sich entgegen allen vorherigen Versprechungen weiterdreht.
Laut Bundesverband bieten mehr Personal und folglich mehr Finanzmittel eine bedeutsame Lösung. Doch während die Krankenkassen eher die Kosten einsparen wollen, zahlreiche Politiker/innen ebenfalls den Kostenfaktor als Gegenargument bringen und die Kantone sich überwiegend als gänzlich ideenlos zeigen, bleiben die Probleme zu Lasten der Spital-Mitarbeitenden und Patienten/-innen weiterhin bestehen.
Dabei rudert der VSAO bereits zurück und mindert den Hauptfokus auf die finanziellen Mittel. Mit dem Willen zur Veränderung wäre bereits ein Meilenstein erreicht, denn nicht alle Verantwortlichen sehen die Dringlichkeit von Lösungen und das Umsetzen dieser zur Optimierung der Arbeitsbedingungen in schweizerischen Spitälern.
Der runde Tisch
Am runden Tisch sollen nun die Verantwortlichen der Krankenkassenverbände, des Spitalverbandes Hplus, des Bundesgesundheitsamtes sowie der Kantone und Ärzte/-innen zusammenfinden. Die Ausarbeitung von Lösungen ist das Ziel dieser Diskussionsrunde, die bis zu einer festzusetzenden Frist umzusetzen sind. Wie viele Gesprächsrunden zur Zielerreichung erforderlich sein werden, ist unbekannt. Das erste Gespräch soll spätestens Ende Juli stattfinden.