Während die Zahl betagter Menschen in der Schweiz zunimmt, geht die Zahl der Hausbesuche durch den Hausarzt zurück. Fachleute beobachten diese Entwicklung bereits seit längerem, nun konnte ein Forscherteam des Instituts für Hausarztmedizin in Zürich den Trend bestätigen. Die Ergebnisse der Analyse wurden im Fachmagazin Swiss Medical Weekly veröffentlicht.
Zahl der hausärztlichen Patientenbesuche sinkt um mehr als ein Achtel
Statistischen Auswertungen aus dem Jahr 2020 zufolge sind 18,8 Prozent der ständigen Schweizer Wohnbevölkerung 65 Jahre alt oder älter. In den vergangenen zehn Jahren ist der Anteil der über 65-Jährigen um 1,9 Prozent gestiegen. Insbesondere ältere Menschen sind häufig auf ärztliche Hausbesuche angewiesen. Im Gegensatz zum steigenden Alter der Bevölkerung geht die Zahl der Hausarztbesuche am Wohnort jedoch kontinuierlich zurück. Belege dafür bietet das von Prof. Dr. Stefan Neuner-Jehle geleitete Forscherteam vom Institut für Hausarztmedizin in seiner Studie „Time trends in general practitioners‘ home visits for older patients: a retrospective cross-sectional study from Switzerland“.
Grundlage für die Untersuchung bildet statistisches Material des grössten Schweizer Krankenversicherers Helsana aus den Jahren 2014 bis 2018 mit Datensätzen für 339’301 Patientinnen und Patienten im Alter ab 65 Jahren.
Der Anteil der Versicherungsnehmer mit mindestens einem hausärztlichen Hausbesuch im Jahr sank im Beobachtungszeitraum von 10,7 Prozent auf 9,3 Prozent. Ein Rückgang um mehr als ein Achtel. In der Altersgruppe der über 80-Jährigen ging der Anteil von 26 Prozent auf 23 Prozent zurück. Für Versicherte dieser Altersgruppe war jeder vierte Kontakt mit einem Arzt oder einer Ärztin ein Hausbesuch. Bei Versicherten, die im Pflegeheim leben, verringerte sich der Anteil an hausärztlichen Hausbesuchen von 68,7 Prozent auf 65,8 Prozent.
Gründe für die Entwicklung
Den Hauptgrund für die Entwicklung sieht Prof. Dr. Neuner-Jehle in verschlechterten Rahmenbedingungen der Grundversorger. Während die Kosten für einen Hausbesuch steigen, werden sie, wie viele andere hausärztliche Leistungen auch, noch zum selben Tarif vergütet wie vor 20 Jahren. Für Hausärzte bedeutet dies, dass sie die Produktivität ihrer Praxis steigern müssen. Das wiederum führt dazu, dass für den einzelnen Patienten weniger Zeit übrigbleibt.
Gleichzeitig lässt sich ein positiver Grund für den Trend erkennen: Über die vergangenen Jahre hinweg wurde die Pflege zu Hause stark ausgebaut und Pflegekräfte haben mehr Kompetenzen erhalten. Viele Aufgaben, die früher dem Hausarzt zufielen, können heute direkt Pflegende übernehmen.
Hausbesuche als wichtiger Aspekt einer guten medizinischen Versorgung
Wie sinnvoll die hausärztliche Behandlung am eigenen Wohnort ist, ist nicht eindeutig belegt. Prof. Dr. Neuner-Jehle hält sie jedoch für einen Aspekt einer guten medizinischen Versorgung. Geht die Anzahl der Hausbesuche weiter zurück, gefährdet dies seiner Ansicht nach die Versorgungsqualität. Als Anhaltspunkt dafür wertet er eine weitere in Swiss Mecial Weekly veröffentlichte Studie, in der die Entwicklung hausärztlicher Besuche im Kanton Waadt ausgewertet wurde. Laut dieser Studie ist auch der Anteil der Notfallbesuche durch Hausärzte rückläufig, sowohl tagsüber als auch in der Nacht. Gut ein Drittel der in der Studie erfassten hausärztlichen Besuche am Wohnort wurden als Notfälle deklariert, nur neun Prozent davon fanden nachts statt.
Problematisch ist der Rückgang bei den Hausbesuchen laut Prof. Dr. Neuner-Jehle auch, da auf diese Weise Diagnosen oft verschleppt würden. Werden Krankheiten erst zu spät oder nur unzureichend behandelt, zieht das häufig Spitaleinweisungen nach sich.
Mit dem Ausbau der qualifizierten Pflege lässt sich die entstandene Lücke teilweise füllen. Können Pflegekräfte weitgehend autonom agieren und müssen nur noch bei Bedarf einen Arzt hinzuziehen, wirkt dies der drohenden Unterversorgung entgegen. An ihre Grenzen stösst die häusliche Pflege jedoch in Fällen, in denen ärztliche Entscheidungen notwendig werden. Laut Prof. Dr. Neuner-Jehlen lässt sich dieser Punkt durch eine klare Aufteilung der Kompetenzen und durch Rücksprachen lösen. Dennoch müsse man auch die Vergütung der Hausärzte dringend angepassen.