Schweizer Notfallmediziner/innen sehen sich derzeit enormem Druck ausgesetzt. In einem gemeinsamen Communiqué warnen die Schweizerische Gesellschaft und Notfall- und Rettungsmedizin (SGNOR) und die Association Latine de Médecine d’Urgence (ALAMU), dass die Notfallstationen kurz vor dem Kollaps stünden. Für die Überlastung sei unter anderem die in diesem Winter umgehende Dreifachepidemie aus Covid, Grippe und RSV verantwortlich. Die Bettenkapazitäten seien ausgelastet, zugleich fehle es an Fachkräften.
Dreifachbelastung: Epidemie, fehlende Betten und Fachkräftemangel
Bereits im September 2022 stellte eine Umfrage unter der Kaderleuten der Gesundheitseinrichtungen fest, dass 87 Prozent der Schweizer Spitäler, Reha-Kliniken und Altersheime unterbesetzt sind. Der vom Verband Swiss Nurse Leaders durchgeführten Befragung zufolge fehlen 2.300 Beschäftigte in der Pflege. Die Grundversorgung liesse sich nur bewältigen, da die verbleibenden Mitarbeitenden Überstunden leisten. Besonders betroffen: die kindermedizinischen Abteilungen der Deutschschweizer Spitäler. Wie das Berner Inselspital gegenüber der Presse mitteilte, liegt die Überbelegung der Kindernotfallstationen bei 30 bis 50 Prozent.
Im Winter 2022/23 hat sich die Situation noch verschärft. Im gemeinsamen Schreiben von SGNOR und ALAMU, adressiert an die wichtigsten Gesundheitsbehörden und Spitalleitungen in der gesamten Schweiz, ist von einer „drohenden Katastrophe“ die Rede. Zum ohnehin herrschenden Fachkräftemangel komme nun noch eine Dreifachepidemie aus Covid, Grippe und Respiratorischem Synzytial-Virus (RSV) hinzu. Die Bettenkapazitäten seien erschöpft. Die prekäre Situation betreffe nicht nur die Notfallversorgung, sondern das ganze Schweizer Gesundheitswesen.
Die Überlastung der Notfallstationen hat schwerwiegende Folgen für die Patienten/-innen und das Personal. Patienten/-innen müssen länger auf Behandlungen warten. Die Zahl an medizinischen Fehlern steige, was wiederum einen Anstieg der Mortalität und Morbidität zur Folge habe. Die Beschäftigten auf den Notfallstationen wiederum fühlten sich demotiviert. Aufgrund der hohen Belastung kommt es zu häufigen Burnout-Fällen und hohen Krankenständen. Zahlreiche Mitarbeitende würden sich beruflich umorientieren. Den Gesundheitseinrichtungen selbst falle es schwerer, die Aufnahme ins Spital zu regulieren. Zudem müssen Spitäler mit mehr Beschwerden umgehen und verlieren das Vertrauen der Patienten/-innen.
Ursachen für die Überlastung der Notfallstationen
In ihrem Schreiben gehen die Notfallmediziner/innen auch auf die strukturellen Ursachen der Überlastung ein. Fehler und Versäumnisse identifizieren sie bereits im Vorfeld zur Aufnahme in die Notaufnahme. So fehle es in der Schweiz an Grundversorgern und Bereitschaftsdiensten. Das führt dazu, dass mehr Menschen mit geringen Beschwerden in die Notaufnahme kommen. Zugleich nimmt die Zahl an schwächeren Patienten/-innen zu, die bei kleinsten Komplikationen die Notfallstationen der öffentlichen Spitäler in Anspruch nehmen. Medizinisches Fachpersonal sieht die Notfallstationen zudem als einfachen Weg an, um Fachgutachten einzuholen und Krankenhauseinweisungen zu verlagern.
Innerhalb der Notfallstationen fehlt es derweil an technischer Ausstattung und das Personal muss sich mit immer komplexeren Krankheitsfällen beschäftigen. In den nachgelagerten Bereichen stehen ebenfalls zu wenige Betten für Akutfälle zur Verfügung. Die zunehmende Spezialisierung und Abschottung einzelner Krankenhausabteilungen werde zudem den Bedürfnissen der Notfallpatienten/-innen nicht mehr gerecht, heisst es in dem Schreiben weiter. Logistische und organisatorische Einschränkungen wie ungünstige Öffnungszeiten würden ebenfalls dazu führen, dass mehr Patienten/-innen die Notfallstationen in Anspruch nehmen.
Lösungsvorschläge der SGNOR und ALAMU
Zum Abschluss ihres Schreibens gehen die Notfallmediziner/innen auf mögliche Lösungen ein. Die beiden Gesellschaften fordern Kantone und Spitäler auf, sich prioritär mit der Entlastung der Notfallstationen zu befassen. Die Autoren betonen, dass Notfallstationen bei Notsituationen als letztes Mittel genutzt werden sollen, nicht als bequeme Lösung.
Zur Entlastung sollen unter anderem die folgenden Vorschläge beitragen:
- sichere Finanzierung der öffentlichen Spitäler und der notfallmedizinischen Einrichtungen im Allgemeinen
- Fortführung und Umsetzung einer Bedarfsplanung für die öffentlichen Gesundheit, orientiert an den Bedürfnissen der Bevölkerung
- stärkere Förderung von Alternativen zur stationären Versorgung, zum Beispiel durch eine ausgeweitete häusliche Pflege
- Stärkung der Hausarztmedizin und des hausärztlichen Notdienstes, verstärkte Überweisung von Patienten/-innen an Grundversorgungs- und Bereitschaftsärzte/-ärztinnen
- Koordination der öffentlichen und privaten Gesundheitsfachkräfte, um einen Bereitschaftsdienst ausserhalb der Notfallstationen sicherzustellen
- Erhöhung der Anzahl der verfügbaren Spitalbetten und Einrichtung flexibler und objektiver Massnahmen zur Aufrechterhaltung der Bettenbelegung („evidenzbasiertes Bettenmanagement“)
- geplantes Management der Reservekapazitäten der Spitäler
Diese Massnahmen sollen verhindern, dass weitere Fachkräfte in weniger anspruchsvolle Positionen abwandern und die Notfallversorgung in der Schweiz zusammenbricht. Zur Umsetzung von bereichsübergreifenden, nachhaltigen Lösungen sehen sie die Einbindung der Behörden und aller privaten und öffentlichen Akteure als zwingend notwendig an.