Die Arbeitszeiten von Ärztinnen und Ärzten an den Schweizer Spitälern entsprechen oft nicht den gesetzlichen Vorgaben. Viele arbeiten mehr als 50 Stunden die Woche, zwei Drittel fühlen sich erschöpft und ausgelaugt. Zu diesem Schluss kommt die dritte Mitgliederbefragung des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (vsao). Die Auswirkungen bekommen auch Patienten zu spüren.
Jeder Zweite arbeitet länger als gesetzlich zulässig
Die aktuelle Mitgliederbefragung hat das Marktforschungsinstitut Demoscope im Auftrag der vsao vom 21. Januar bis zum 2. März 2020 durchgeführt. Erfasst wurde die Arbeitsbelastung im Jahr 2019. 2’944 Assistenz- und Oberärzte haben die Fragen per E-Mail oder auf dem Postweg beantwortet. Die Auswertung berücksichtigt Antworten der Mitglieder, die dem Arbeitsgesetz unterstellt sind.
Die gesetzlich zulässige Höchstarbeitszeit liegt bei 50 Wochenstunden. Die Hälfte der Befragten arbeitet laut eigenen Angaben jedoch länger, 45 Prozent der Oberärztinnen und -ärzte sind mehr als 52 Stunden pro Woche im Dienst. Hochgerechnet auf ein Vollzeitarbeitspensum, beträgt die durchschnittliche Arbeitsbelastung 55.7 Stunden in der Woche. Bei den Assistenzärzten liegt die wöchentliche Arbeitsbelastung bei 52.8 Stunden. Im Vergleich zu den vergangenen Erhebungen zeigt sich hier keine Verbesserung.
Ärztinnen und Ärzte leisten im Schnitt 137 Überstunden
Auch die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit wird oft nicht eingehalten: 69 Prozent der Befragten überschreiten diese. 33 Prozent der Umfrageteilnehmer arbeiten im Durchschnitt ein bis fünf Stunden pro Woche mehr als vertraglich vereinbart, 23 Prozent arbeiten sechs bis zehn Stunden mehr und 13 Prozent legen sogar mehr als zehn zusätzliche Stunden pro Woche ein. Die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden werden dabei oft nicht gemeldet. Im Durchschnitt werden 2.5 der wöchentlichen Arbeitsstunden nicht erfasst, vor allem jene, welche die Höchstarbeitszeit überschreiten.
Die Zahl der geleisteten und erfassten Überstunden beträgt bei Oberärztinnen und -ärzten im Durchschnitt 137 Stunden, bei Assistenzärztinnen und -ärzten sogar 141 Stunden. Zwei von fünf Befragten arbeiten zudem länger als sieben Tage am Stück. Im Gegensatz zu diesen Angaben scheint zunächst zu stehen, dass die Zahl der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden zurückgeht. Diese Entwicklung liegt jedoch in einem höheren Anteil von Teilzeitstellen begründet: 2019 arbeiteten 28 Prozent der Befragten Teilzeit, bei der letzten Umfrage 2016 waren es nur 23 Prozent.
Der Wunsch nach Teilzeitbeschäftigung nimmt derweil weiterhin zu. Die durchschnittliche vertraglich vereinbarte Arbeitszeit liegt bei 45 Stunden in der Woche. Bei den Vollzeitbeschäftigten sind es im Schnitt 48.8 Wochenstunden. 41 Prozent der Befragten würden jedoch gerne weniger als 40 Stunden in der Woche arbeiten. 39 Prozent wünschen sich Arbeitszeiten zwischen 40 und 42 Stunden in der Woche, 18 Prozent möchten zwischen 43 und 50 Stunden arbeiten.
70 Prozent der Befragten fühlen sich ausgelaugt und erschöpft
Die langen Arbeitszeiten wirken sich negativ auf die Gesundheit der Ärztinnen und Ärzte aus. Sieben von zehn Befragten berichten, dass sie sich zumindest hin und wieder ausgelaugt oder emotional erschöpft fühlen. 56 geben an, sich meistens oder häufig müde zu fühlen. 33 Prozent sind meistens oder häufig ausgelaugt, 29 Prozent fühlen sich meistens oder häufig körperlich, 32 Prozent emotional erschöpft. Im Vergleich mit den vorangegangenen Erhebungen nehmen die Werte kontinuierlich zu.
Doch nicht nur die Gesundheit der Ärztinnen und Ärzte, auch die Gesundheit der Patienten wird durch überarbeitetes medizinisches Personal gefährdet. Nur jeder dritte Umfrageteilnehmer gibt an, in den letzten zwei Jahren keine Gefährdung eines Patienten durch übermüdete Mediziner erlebt zu haben. 56 Prozent erwähnen dagegen, in einer durchschnittlichen Arbeitswoche von 51 bis 60 Stunden mindestens eine Gefährdung mitzuerleben. Sieben Prozent berichten sogar von mehr als neun Gefährdungen pro Woche. Von den Befragten, die mehr als 60 Stunden in der Woche arbeiten, erleben 63 Prozent mindestens eine, 15 Prozent mehr als neun Gefährdungen pro Woche. Assistenzärztinnen und -ärzte berichten dabei häufiger von solchen Gefährdungen als Oberärztinnen und -ärzte.
Erstmals auch Fragen zur Diskriminierung erfasst
Erstmals erfasste die vsao-Erhebung auch Fragen zur Diskriminierung im beruflichen Umfeld. Mehr als die Hälfte der Befragten (54 Prozent) berichtet, im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit schon einmal Diskriminierung miterlebt zu haben. 31 Prozent geben an, selbst diskriminiert worden zu sein. Frauen (58 Prozent) berichten dabei häufiger von Diskriminierung als Männer (49 Prozent). Frauen erleben besonders häufig Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, zudem aufgrund von Schwangerschaft und Elternschaft. Bei Männern gehören Nationalität und ethnische Herkunft zu den bedeutendsten Diskriminierungsgründen.
58 Prozent der von Diskriminierung Betroffenen berichten von psychischen Auswirkungen. 39 Prozent erwähnen negative Einflüsse auf ihre ärztliche Weiterbildung, 28 Prozent Nachteile bei den Arbeitseinsätzen und Arbeitszeiten. 26 Prozent geben an, aufgrund von Diskriminierung bei Beförderungen benachteiligt zu werden.