Nach wie vor sind viele Haus- und Kinderärzte in der Schweiz über 65 Jahre alt und stehen kurz vor der Pensionierung. Dadurch droht eine Versorgungslücke. Die Workforce-Studie 2020 des universitären Zentrums für Hausarztmedizin Basel, durchgeführt im Auftrag des mfe, sieht allerdings Hoffnung für die medizinische Grundversorgung. Massnahmen wie neue Arbeitszeit- und Praxismodelle, die Einführung von mehr Studienplätzen und Bemühungen, den Beruf des Haus- und Kinderarztes wieder attraktiver zu machen, zeigen demnach erste Wirkung.
Haus- und Kinderärzteschaft: manifeste Überalterung
Der Workforce-Studie zufolge liegt das mittlere Alter in der Hausärzteschaft aktuell bei 55 Jahren. 15 Prozent der praktizierenden Hausärzte und 5 Prozent der Kinderärzte sind über 65 Jahre alt. Somit werden fast 13 Prozent der medizinischen Grundversorgung von Ärzten im Pensionsalter geleistet. Auch in Zukunft planen 39 Prozent der Hausärzte und 24 Prozent der Kinderärzte, ihre Praxis nach dem 65. Lebensjahr weiterzuführen.
56 Prozent der heute tätigen Hausärzte möchten ihre Praxis jedoch innerhalb der nächsten zehn Jahre aufgeben oder an einen Nachfolger übergeben. Dadurch droht eine Versorgungslücke in der medizinischen Grundversorgung. Die Verlagerung der Patienten zu Spezialisten und Spitälern kann diese Lücke nicht füllen, da die dadurch entstehenden Kosten das Gesundheitssystem massiv belasten.
Es gibt allerdings auch Lichtblicke. So hat zum Beispiel der Anteil der unter 50-jährigen Hausärzte von 25 Prozent im Jahr 2010 auf aktuell 34 Prozent zugenommen. Auch der Anteil der Frauen in der Hausärzteschaft steigt. Insgesamt liegt der Frauenanteil in der Hausärzteschaft derzeit bei etwa einem Drittel. In der Schweiz praktizierende Kinderärzte sind im Mittel 51 Jahre alt. Zwei Drittel von ihnen sind Frauen.
Haus- und Kinderärzte für die medizinische Versorgung immens wichtig
Die medizinische Grundversorgung durch Haus- und Kinderärzte bildet den wichtigsten Pfeiler des Schweizer Gesundheitssystems. Hausärzte können etwa 94,3 Prozent aller medizinischen Probleme lösen, ohne dass Patienten zu einem Spezialisten oder ins Spital überwiesen werden müssen. Dabei verursachen sie nur 7,9 Prozent der Gesundheitskosten. Frühkindliche Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt verhindern derweil Notfallsituationen und die Beratung durch Kinderärzte hilft Eltern dabei, Entwicklungsverläufe frühzeitig zu erkennen. Auch das senkt die Kosten im Gesundheitswesen.
Das zweite Massnahmenpaket des Bundesrats, das auf die Kostendämpfung im Gesundheitswesen abzielt, stützt sich daher auf die Grundversorgung durch die Haus- und Kinderärzteschaft. Die kostensenkende Wirkung kann jedoch nur zustande kommen, wenn sich der medizinische Nachwuchs tatsächlich für eine Tätigkeit in der Grundversorgung entscheidet und dem Versorgungsmangel durch geeignete Maßnahmen vorgebeugt wird.
Versorgungsmangel: Talsohle ab 2040 absehbar
Die Autoren der Workforce-Studie 2020 gehen davon aus, dass sich der Grundversorgermangel aufgrund der Überalterung der Haus- und Kinderärzteschaft in den kommenden Jahren noch verschärft. Sie halten allerdings auch das Erreichen einer Talsohle ab 2040 für wahrscheinlich. Voraussetzungen dafür ist allerdings, dass die Zahl der medizinischen Studienplätze angehoben wird.
Im Jahr 2019 haben 1’089 Studierende einen Abschluss im Fach Humanmedizin gemacht. Etwa 20 Prozent von ihnen wählen eine Tätigkeit als Hausarzt. Bleiben diese Zahlen in den nächsten zehn Jahren konstant, schrumpft die Zahl der Hausärzte in der Schweiz bis 2030 aufgrund von Pensionierungen um 16 Prozent. Um den Versorgungsmangel aufzufangen, fehlen also rund 1’000 zusätzliche Ärzte.
Wie von swissuniversities geplant, soll die Zahl der medizinischen Studienplätze bis 2025 auf 1’350 pro Jahr angehoben werden. Entscheiden sich von diesen 1’350 Absolventen weiterhin 20 Prozent für eine Hausarzttätigkeit, könnte die durch Pensionierungen entstehende Versorgungslücke größtenteils geschlossen werden.
Attraktivität des Haus- und Kinderarztberufs steigern
Damit sich der medizinische Nachwuchs für eine Tätigkeit in der medizinischen Grundversorgung entscheidet, muss der Beruf des Haus- oder Kinderarztes möglichst attraktiv erscheinen. Die Workforce-Studie 2020 zeigt, dass vergangene Massnahmen zur Attraktivitätssteigerung bereits Erfolge zeigen. So hat etwa die Anzahl der Wochenarbeitsstunden in der Hausärzteschaft abgenommen, zugleich ist die Arbeitszufriedenheit gestiegen.
Arbeiteten Hausärzte vor 15 Jahren noch rund 50 Stunden pro Woche in ihrer Praxis, sind es aktuell durchschnittlich 43 Stunden in der Woche. Die Mehrheit der niedergelassenen Hausärzte ist nicht mehr in Vollzeit tätig. Im Mittel arbeiten Männer neun Halbtage in der Woche, Frauen sieben Halbtage. Bei den Kinderärzten sind Männer im Mittel acht Halbtage pro Woche, Frauen sechs Halbtage in der Woche tätig.
Kürzere Arbeitszeiten erlauben eine bessere Vereinbarkeit des Berufs mit Freizeit und Familie. Hinzu kommt, dass immer mehr Haus- und Kinderärzte in einer Gemeinschaftspraxis arbeiten, in der sich die Arbeitslast leichter auf mehrere Kollegen verteilen lässt. Waren 2005 noch 60 Prozent der Haus- und Kinderärzte in einer Einzelpraxis tätig, sind es 2020 nur noch 33 Prozent. Die besseren Arbeitsbedingungen führen auch dazu, dass die überwiegende Mehrheit aller Schweizer Haus- und Kinderärzte mit ihrer Arbeitssituation zufrieden ist.